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Goldfisch im Karpfenteich

Das Start-up-Unternehmen Sentifi durchkämmt das Netz nach finanzmarktrelevanten Informationen. Investoren erhalten die entscheidenden Hinweise früher.

Jeder weiss, wie ein Start-up aussieht: Die Gründer tragen stets Turnschuhe und gepflegten Vollbart, das Büro ist cool, liegt in einem äusserlich heruntergekommenen Fabrikgebäude am besten aus Backstein, am besten in Berlin, New York oder gleich in Palo Alto. Innen bröckelt gekonnt der Putz, zwei Programmierer üben sich im Tischfussball, auf dem Stoffsofa lümmeln sich Gestalten mit Laptops auf den Knien. Alles ist bunt, das gelieferte Essen sieht gesund aus und Bilder davon werden per Selfie in die Welt gepostet. Gearbeitet wird rund um die Uhr – oder auch mal rund um die Uhr nicht. Stimmt das alles so weit?

Anders Bally ist an diesem regnerischen Tag in Zürich dabei, das Klischee zu widerlegen. Bally, glattrasiert, 50 Jahre alt und damit der Start-up-Szene deutlich entwachsen, ist Gründer und Chef von Sentifi. Es ist nicht seine erste Gründung. Sein letztes IT-Unternehmen beschäftigte sich mit Datensicherheit. Er und das Team haben es damals weiterentwickelt und an SAP verkauft. Jetzt also Sentifi.

Das 2012 gegründete Unternehmen sammelt finanzmarktrelevante Daten aus Social-Media-Kanälen, aus News-Seiten und Blogs und versorgt damit die Herren der weltweiten Finanzströme: Hedgefonds-Manager, Vermögensverwalter, Finanzanalysten, aber auch Millionen von Privatinvestoren. Weltweit sind es Milliarden von Kommentaren, die so zusammenkommen. Sentifi zählt damit zu den Fintechs – jenen jungen Unternehmen, deren Jagdgebiet das herkömmliche Bankgeschäft ist. Noch sind deren Marktanteile niedrig. Doch Berater, wie etwa die von Accenture, sind sich sicher, dass durch die Fintechs in der Branche kein Stein auf dem anderen bleiben wird. 30 Prozent der Umsätze herkömmlicher Finanzdienstleister fallen der technischen Revolution zum Opfer. »Wenn die Banken nicht reagieren, werden sie zu reinen Infrastruktur-Lieferanten verkommen«, warnt Richard Lumb, Chef der Finanzsparte bei Accenture.

Sie reagieren. Die Grafiken mit dem orangenen Sentifi-Logo, die beispielsweise anzeigen, welches Thema gerade in Zusammenhang mit welchem Unternehmen heiss diskutiert wird, gehören inzwischen zum Standard-Repertoire bei einigen Banken und Wirtschaftszeitungen: South China Morning Post, Handelsblatt in Deutschland, Neue Zürcher Zeitung – sie alle setzen auf die Signale, die Sentifi filtert und abbildet. Der Nachrichtendienst soll das Finanz-Informationssystem von morgen werden. Blitzschnell, zuverlässig und jederzeit weltweit verfügbar. Wenn es nach Bally geht, müssen sich die Macher von Finanzdiensten wie Reuters oder Bloomberg, deren Terminals aus den Handelssälen der Welt nicht wegzudenken sind, Sorgen machen, denn ihr Geschäftsmodell gerät ins Wanken. Während etablierte Anbieter wie Bloomberg mit 2.300 Journalisten in 72 Ländern werben, zählt Sentifi so: 2,3 Millionen Stimmen werden ausgewertet, sie stammen von 154.000 Finanzmarktexperten, die in 102 Ländern sitzen. »Anleger publizieren, was sie denken. Und sie wollen wissen, was andere denken, bevor sie investieren«, erkennt Bally. Kann Sentifi in die Zukunft sehen? »Nein«, sagt der CEO. »Aber wir bilden Verhaltensmuster von Finanzmarktteilnehmern ab. Es ist eher die Börsenpsychologie, der wir auf den Zahn fühlen.«

Bally spricht von »Crowd-Intelligenz«, »Big Data« und »selbstlernenden Algorithmen«, während er eines der ehrwürdigen Traditionshotels am Zürichsee betritt, die Treppe nach oben nimmt, die knarrenden Dielen zum hinteren Raum entlanggeht und die um einen Kachelofen versammelte Runde aus Investoren und Ideengebern begrüsst. Statt Smoothies gibt es hier Zürcher Geschnetzeltes, statt des Geräuschs vom an die Bande prallenden Ball auf dem Tischfussball prasselt ein Kaminfeuer. Sentifi gestaltet die Zukunft, aber Bally weiss, dass er das Know-how dafür nur in der Gegenwart finden kann.

Die Runde, die er zusammengetrommelt hat, ist hochkarätig: Ein ehemaliger Investmentbanker aus den Niederlanden, der führende Kopf eines US-IT-Riesen, ein Investor aus China, ein Werber, ein Hedgefonds-Manager, ein Anwalt. Zusammen mit einigen anderen sind sie das Gehirn von Sentifi. Die Finanzexperten stellen die Anforderungen, der IT-Fachmann übersetzt die analogen Wünsche in eine digitale Sprache, der Werber kümmert sich um die Verständlichkeit dessen, was Sentifi da ausbrütet.

Szenenwechsel: In Ho-Chi-Minh-Stadt ist es früher Abend. Die vietnamesische Metropole erlebt ihre abendliche Rushhour. Die Radfahrer sind weniger geworden. Motorräder kämpfen mit Autofahrern um die Vorherrschaft auf der Strasse. In einem nüchternen Bürobau arbeiten 60 Finanzanalysten, Data Scientists, Webdesigner, Community-Manager und Softwareentwickler. Wenn Zürich das Gehirn ist, schlägt hier das Herz von Sentifi. Eine kleine Runde hat sich vor einem Bildschirm versammelt: zwei Frauen, drei Männer, alle um die 30, einige haben in den USA studiert. Das Team konferiert mit Europa, genauer mit Zürich, Schweiz. Ballys blonder Schopf erscheint auf den Monitoren. Die Ideen der Zürcher Eidgenossen werden hin und her gewälzt, auf ihre Machbarkeit überprüft. Eine Woche nach der Kaminrunde gehen die ersten Versionen von dem, was im ehrwürdigen Hotel besprochen wurde, live ins Netz.

Sentifi ist schnell, das Netz seiner Analysten spannt sich Monat für Monat enger um die Welt, ist Sentifi auch originell? Social-Media-Analyse-Tools gibt es einige. Und wie immer im Geschäft mit Big Data ist es nicht das Problem, die Daten zu bekommen, sondern in der Menge die richtigen Ansätze zu finden. Es geht um den Goldfisch im Karpfenteich, den Volltreffer im Millionenschwarm. Jeder Siebenjährige kann seine Meinung zu Schokolade aus dem Hause Nestlé im Netz verbreiten – die Aktie bewegt das dann nicht. »Sentifi analysiert nur Meldungen von relevanten Teilnehmern am Finanzmarkt«, sagt Bally und rückt damit das, was Sentifi anders macht, in den Vordergrund: Wer von Sentifi als Marktteilnehmer aufgelistet ist, erhält ein Ranking. Wie ein Arzt das Fieber misst Sentifi den Einfluss seiner Quellen auf den Markt. Und derzeit steigt das Fieber.