Commerzbank Analysen

Ist die BRIC-Story gescheitert?

Die Apologeten der BRIC-Story argumentieren, Brasilien, Russland, Indien und China besäßen vorzügliche langfristige Wachstumsaussichten. Lange sah es so aus, als gäbe die wirtschaftliche Entwicklung dem BRIC-Enthusiasmus recht. Auch die Währungen dieser Länder lieferten unter Berücksichtigung der Zinsdifferenzen eine gute Performance. In den letzten Jahren freilich erscheint die Story weniger überzeugend. Die BRIC-Länder müssen mit erheblicher Wachstumsverlangsamung kämpfen, ihre Währungen schwächeln teilweise. Ist die BRIC-Story gescheitert, oder haben wir es nur mit einem temporären »Durchhänger« zu tun?

In den frühen Jahren dieses Jahrhunderts erregte eine Reihe von Research-Papieren der US-Investmentbank Goldman Sachs erhebliches Aufsehen. Jim O’Neill, damals Chefvolkswirt der Bank, argumentierte zusammen mit Ko-Autoren, vier große Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien und China) hätten glänzende langfristige Wachstumsaussichten. Und in der Tat, zwischen dem Beginn dieses Jahrtausends und Ende 2007 (dem Vorabend der globalen Finanzmarktkrise und Rezession) wuchsen diese vier Volkswirtschaften ansehnlich (Tabelle 1). Seitdem haben die BRIC-Länder allerdings einen Durchhänger.

Tabelle 1: Wachstumsraten der BRICS-Länder

Durchschnittliches annualisiertes Wachstum des realen BIP

Periode

Entwickelte Volkswirtschaften

Brasilien

Russland

Indien

China

2000–2007

2,7 %

3,6 %

7,2 %

7,1 %

10,5 %

2008–2009

–1,6 %

2,5 %

–1,5 %

6,2 %

9,4 %

2010–2015

1,8 %

2,0 %

1,7 %

7,3 %

8,3 %

2016*

–3,5 %

–0,7 %

7,7 %

6,5 %

*Median-Prognose der von Bloomberg befragten Analysten
Stand: 15. September 2016; Quelle: IMF WEO, Commerzbank Research
Die Darstellung der genannten Produkte erfolgt lediglich in Kurzform. Die maßgeblichen Produktinformationen stehen im Internet unter www.zertifikate.commerzbank.ch zur Verfügung.

Doch was ist vom ökonomischen Inhalt geblieben? Die Jahre 2008 und 2009 sollten fairerweise als Ausnahmezustände gewertet werden. Die BRICS-Länder konnten sich nicht vollständig von der großen Rezession der entwickelten Volkswirtschaften entkoppeln, was nicht überraschen sollte. Im Gegenteil. Mit Ausnahme Russlands konnten die BRICS-Länder der globalen Rezession überraschend gut trotzen. Enttäuschend ist ein ganz anderer Aspekt: die Wachstumsperformance nach den Krisenjahren 2008/2009. Dieses Jahr werden zwei der fünf BRICS-Volkswirtschaften (Brasilien und Russland) zum zweiten Mal in Folge negative Wachstumsraten vorweisen. In China und Südafrika hat die Wachstumsdynamik deutlich nachgelassen. Nur Indien hält sich weiterhin gut (Tabelle 1). Die Währungsperformance ist enttäuschend. Selbst nach Berücksichtigung von Zinsunterschieden hätte man mit US-Dollar-Investitionen in den letzten fünf Jahren rund 12 Prozent besser abgeschnitten als mit einer Investition in einen BRIC-Währungskorb.

Woran hakt es in den BRIC-Ländern? Zu Beginn dieses Jahrhundert lag das Pro-Kopf-BIP in den BRIC-Ländern zwischen 7 Prozent (Indien) und 36 Prozent (Russland) des Pro-Kopf-BIP in entwickelten Volkswirtschaften. Die Prognose, dass diese Länder schneller wachsen als die entwickelten Volkswirtschaften, war scheinbar schon deshalb plausibel, weil diese Länder offensichtlich einen großen Pool ineffizient genutzter Arbeitskräfte zur Verfügung hatten. Jedoch hätte die Erfahrung der Wachstumsökonomik der Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahre eine Warnung sein müssen. Viele Entwicklungsländer konnten in diesem Zeitraum dieses Potenzial nicht umsetzen und blieben sogar hinter den entwickelten Volkswirtschaften zurück. Langfristiges wirtschaftliches Wachstum, so die Lehre, bedarf weiterer Voraussetzungen als nur einer großen Menge ineffizient ausgenutzter Arbeitskraft. Ausbildung, eine annährend optimale Staatsquote, politische Stabilität, Rechtssicherheit u.v.m. sind Faktoren, deren Einfluss auf Wachstumsraten heute als relevant eingestuft wird. Je nach Ausprägung dieser Faktoren müssen dauerhafte Einkommensunterschiede zwischen Volkswirtschaften konstatiert werden.

Freilich, solche »strukturellen Wachstumsfaktoren« können sich ändern. Und zumindest in einigen BRICS-Ländern waren zu Beginn dieses Jahrtausends solche strukturellen Veränderungen zu identifizieren. Prominentestes Beispiel ist China. Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik in den Achtzigerjahren, spätestens der WTO-Beitritt 2001 und der in den Folgejahren rasant wachsende Außenhandel entfalteten starke positive Wachstumseffekte. Dieser Teilaspekt der BRICS-Story ist unbestritten. Doch kann man aus Chinas – im Vergleich zu den entwickelten Volkswirtschaften – hohen Wachstumsraten schließen, dass das Land in absehbarer Zeit das wirtschaftliche Niveau entwickelter Volkswirtschaften erreichen wird? Schauen wir uns Chinas Entwicklung im Vergleich zu den entwickelten Volkswirtschaften seit Anfang der Achtzigerjahre näher an. Auf der x-Achse in Grafik 1 ist das Verhältnis von Chinas Pro-Kopf-BIP zu dem der entwickelten Volkswirtschaften abgetragen, auf der y-Achse die Wachstumsdifferenz des Pro-Kopf-BIP zu dieser Gruppe.

Grafik 1: Chinas »Konvergenz« 1981 bis 2015

Wachstumsdifferenz zu entwickelten Volkswirtschaften (y-Achse) gegen Verhältnis der BIP-Niveaus zu Periodenbeginn (x-Achse); pro Kopf, PPP-gewichtet

Ein fallender Kurvenverlauf – wie zwischen 1993 und 1999 sowie seit 2009 – deutet darauf hin, dass sich das Pro-Kopf-BIP Chinas langfristig einem »Konvergenzpunkt« annähert, der dem Schnittpunkt der Extrapolation dieses Graphen mit der x-Achse entspricht. So wies die Entwicklung zwischen 1993 und 1999 darauf hin, dass Chinas Pro-Kopf-BIP sich bei gut 10 Prozent des Pro-Kopf-BIP der entwickelten Volkswirtschaften einpendeln würde. Die Entwicklung seit 2009/2010 legt nahe, dass dieser Wert bei knapp 50 Prozent liegen dürfte.

Allerdings zeigt Grafik 1 auch, dass immer wieder Phasen zu beobachten sind, in denen die Wachstumsdifferenz Chinas auch bei steigendem Verhältnis der Pro-Kopf-BIPs steigt. Der Zeitraum 1999 bis 2009 ist dafür ein gutes Beispiel. Allerdings muss man sich klarmachen, dass solche Phasen Ausnahmen sind. Würden sie anhalten, würde Chinas Pro-Kopf-BIP das der heute entwickelten Volkswirtschaften nicht nur überflügeln, der Abstand würde danach immer größer. Schließt man solch eine radikale Verarmung der heute entwickelten Volkswirtschaften a priori aus (weil sie inhaltlich unsinnig erscheint), muss man konstatieren: Die rasante Performance Chinas zwischen 1999 und 2009 war nicht nachhaltig. Der Teil der BRICS-Story, der einfach die Entwicklung der frühen Jahre des 21. Jahrhunderts extrapolierte, war von Anfang an fehlerhaft.

Eine Erklärung solch außergewöhnlicher Phasen fällt aber nicht schwer. Verbesserungen der »strukturellen Wachstumsfaktoren« (die Reform- und Öffnungspolitik in den Achtzigerjahren, die Einbindung in den Welthandel im frühen 21. Jahrhundert) bewirken eine Verschiebung des langfristigen Konvergenzpunkts. Bis solche Änderungen ihre Wirkung voll entfalten, können etliche Jahre vergehen (wie zwischen 1999 und 2009). Irgendwann ist solch ein Prozess aber abgeschlossen und es dominiert wieder die Konvergenz zum dann neuen langfristigen Gleichgewicht.

Interpretiert man Chinas Wirtschaftsentwicklung in diesem Sinn, muss man also konstatieren: Der Schub der außenwirtschaftlichen Öffnung lief um das Jahr 2009 herum aus. Kommt kein neuer Schub (eine erneute Verbesserung der strukturellen Wachstumsdeterminanten), dürfte in den Folgejahren Chinas Wachstumsdynamik weiter nachlassen und sich das Pro-Kopf-BIP bei knapp 50 Prozent des Niveaus der entwickelten Volkswirtschaften einpendeln, also unter dem Niveau Russlands. Führt man diese Analyse für die restlichen BRICS-Länder durch (Grafik 2), dann zeigt sich folgendes Bild:
• Brasilien konnte niemals in diesem Jahrtausend einen hinreichend großen Wachstumsabstand zu den entwickelten Volkswirtschaften herausbilden, dass sich das Pro-Kopf-BIP signifikant angenähert hätte. Das Land scheint seinen Konvergenzpunkt bei 30 Prozent bis 45 Prozent des Pro-Kopf-BIP der entwickelten Volkswirtschaften gefunden zu haben. Für Brasilien galt nie irgendeine Form der BRICS-Story.
• Russland verzeichnete bis 2008 eine deutliche Verbesserung seiner langfristigen Wachstumsaussichten. Bei diesem Prozess dürfte es sich im Wesentlichen um ein Aufholen nach der Wirtschaftskrise der Neunzigerjahre gehandelt haben. Zum Ende der Sowjetunion lag das Pro-Kopf-BIP Russlands bei 54 Prozent des Niveaus der entwickelten Volkswirtschaften. Bis 1999 war es auf 36 Prozent gefallen. Die Putin-Jahre (seit 1999) führten zu einer deutlichen Verbesserung gegenüber diesem Tiefpunkt. Seit 2008 scheint sich das Verhältnis des russischen Pro-Kopf-BIP zu dem der entwickelten Volkswirtschaften wieder ungefähr auf dem Niveau zum Ende der Sowjet-Zeit einzupendeln.
• In Indien schien die Entwicklung zwischen 2009 und 2011 darauf hinzudeuten, dass das Pro-Kopf-BIP bei 10 Prozent bis 15 Prozent des Niveaus der entwickelten Volkswirtschaften konvergieren würde. Die erfreuliche Wachstumsentwicklung der letzten zwei Jahre bietet Hoffnung, dass sich der Konvergenzpunkt doch weiter rechts im Diagramm befindet. Allerdings ist es noch viel zu früh, zu sagen, wo.

Grafik 2: »Konvergenz« der BRICS-Länder 2000 bis 2015

Wachstumsdifferenz zu entwickelten Volkswirtschaften (y-Achse) gegen Verhältnis der BIP-Niveaus (x-Achse); pro Kopf, PPP-gewichtet

Fazit: Damit die BRIC-Story weiterlebt, bedarf es neuer Impulse
Chinas Öffnung zum Welthandel, Russlands Erholung vom Einbruch der Jelzin-Ära in den frühen Regierungsjahren Putins: In den frühen Jahren dieses Jahrtausends veränderten in einigen BRIC-Ländern Wirtschaftspolitiken die »strukturellen Wachstumsfaktoren« so nachhaltig, dass diese Länder das Pro-Kopf-BIP-Niveau (im Vergleich zu den entwickelten Volkswirtschaften), zu dem sie langfristig konvergieren, verbessern konnten. Die BRIC-Story war in diesem Sinn begründet. Allerdings traf sie nicht für alle BRIC-Länder zu. Brasilien konnte in diesem Zeitraum nie hinreichend seine »strukturellen Wachstumsfaktoren« verbessern. Insgesamt gilt für die BRICS: Die Wachstumsimpulse laufen seit 2008/2009 aus. Lediglich in Indien scheint der Impuls hinreichend Momentum zu behalten. China hingegen muss, wenn die Wirtschaftspolitik dort lediglich im »Weiter so« besteht, mit weiter nachlassender Wachstumsdynamik rechnen. Die Währungen der BRIC-Länder dürften somit vorerst – trotz höherer Zinsen – zu volatil bleiben, um als strategische Investition attraktiv zu erscheinen.