Zeitgeist

Auf die Sättel, fertig, los

Lange Warteschlangen sind zu einem Markenzeichen der Coronakrise geworden. Die Reihen vor den Krankenhäusern, Supermärkten oder auch Schulen schienen zeitweise endlos. Kaum zu glauben, aber ein vergleichbares Bild zeigte sich vor den Fahrradläden. Ob grosse Ketten oder Einmannbetriebe, die Branche macht derzeit den Umsatz ihres Lebens.

Gefragtes Zweirad
Der Grund für den Boom ist relativ einfach: Öffentliche Verkehrsmittel werden wegen den Ansteckungsgefahren verstärkt gemieden. Und da es in Grossstädten kaum Parkplätze gibt, steigen viele Menschen auf das Velo um. Sogar die Wall-Street-Händler dürften derzeit vermehrt auf dem Drahtesel zu finden sein, nachdem die New Yorker Börse jüngst ankündigte, keine Mitarbeiter mehr ins Gebäude zu lassen, die mit Bus oder Bahn anreisen.

Auch hierzulande avanciert das Fahrrad immer mehr zum favorisierten Transportmittel. Laut dem Branchenverband Velosuisse ist allein die Nachfrage nach Verbrauchsmaterial und Ersatzteilen während des Lockdowns um bis zu 25 Prozent gestiegen. Das liegt vor allem daran, dass viele in dieser Zeit wieder ihre alten Zweiräder aus der Versenkung holten. Einer Umfrage der ETH Zürich und der Universität Basel zufolge, die das Mobilitätsverhalten in der Schweiz untersuchte, haben die Teilnehmer während des Lockdowns deutlich öfter zum Velo gegriffen als in der Vorjahresperiode. Die Experten von Velosuisse sehen gute Chancen, dass der Trend zur Nutzung von Fahrrädern und E-Bikes im Pendler-, Alltags- sowie auch Lastenverkehr nach der Pandemie anhalten wird und fordert nun, dass dafür die nötige Velo-Verkehrsinfrastruktur geschaffen wird.

Rückstand durch Engpässe
Wer sich zurzeit ein neues Zweirad anschaffen möchte, braucht zwei Dinge: Geduld und Geld. Händler berichten davon, dass die Preise wegen der hohen Nachfrage bei gleichzeitig leeren Lagern spürbar angezogen haben. Die Engpässe sind vor allem China geschuldet, denn im wichtigsten Zuliefererland stand die Produktion lange Zeit still oder lief nur auf Sparflamme. Dieser Umstand, zusammen mit der langen Schliessung der Geschäfte während des Lockdowns, sorgt letztlich dafür, dass die Verkaufszahlen derzeit noch rund ein Fünftel hinter denen des Vorjahres liegen. Die Velosuisse-Verbandsmitglieder rechnen jedoch damit, dass der Rückstand noch aufgeholt werden kann.

Besonders gefragt sind rund um den Globus E-Bikes. Laut dem Beratungsunternehmen Mordor Intelligence erreichte der weltweite Markt für die batteriebetriebenen Velos 2018 ein Volumen von 14,8 Milliarden Dollar, was einem stolzen Anteil von 23,5 Prozent am gesamten Fahrradmarkt entspricht. Schätzungen zufolge dürfte das E-Bike-Volumen 2019 auf 15,4 Milliarden US-Dollar zugenommen haben. Für den Prognosezeitraum 2020 bis 2025 gehen die Experten von einem jährlichen durchschnittlichen Wachstum von 6,2 Prozent aus.

Drahtesel mit Börsenbezug
Geht es um Wachstumsmärkte, werden auch Aktienanleger schnell hellhörig. Selbst wenn es nicht viele börsennotierte Akteure auf dem E-Bike-Markt gibt, finden sich einige interessante Player auf dem Kurszettel. Europäischer Marktführer ist die niederländische Accell Group, zu der bekannte Marken wie Ghost und Koga zählen. Die Musik im Velo-Bereich spielt allerdings in Asien. Laut Mordor Intelligence verzeichnet China den grössten Verbrauch an Elektrofahrrädern. Aber auch in Indien steigt die Nachfrage, nachdem die Regierung die Verwendung von E-Bikes empfohlen hat. Zu den börsennotierten Big Playern unter den Herstellern zählt die taiwanesische Giant sowie Merida. Letztgenannter konnte seinen Börsenwert in den vergangenen drei Monaten nahezu verdoppeln und notiert mittlerweile höher als vor dem Corona-Crash.

Dem Zweirad widmen sich zudem viele andere branchenfremde Unternehmen. Dazu zählt beispielsweise PSA Peugeot-Citroën, der österreichische Motorrad- und Sportwagenbauer KTM oder auch Yamaha Motor, die bereits 1993 mit der Vermarktung von E-Bike-Antriebssystemen starteten. Darüber sind zahlreiche Zulieferer eng mit dem Fahrradboom verbunden wie der deutsche Hersteller von Batteriesystemen Voltabox oder Shimano. Die Japaner sind sogar Weltmarktführer bei Fahrrad-Komponenten. Die Börse spendet Applaus: Jüngst erklomm die Shimano-Aktie ein neues Rekordhoch.

Elektrifizierung in allen Bereichen
Noch nie gab es eine grössere Vielfalt an Fahrrädern wie heute. Zig verschiedene Formen und Varianten sind erhältlich. Ein relativ neuer Trend sind derzeit die Gravelbikes, also Räder, die sich vor allem in einem leichten Gelände wohlfühlen, selbst wenn sie optisch eher den Rennrädern gleichen. Bei der Querfeldein-Reise muss aber längst nicht mehr gestrampelt werden, was das Zeug hält, die Hybriden aus Renn- und Geländerad sind wie viele andere Modelle auch mittlerweile mit einem E-Motor zu haben. Egal ob Lastentransport- oder Familienräder, MTBs oder Citybikes, die Pedelec-Neuheiten werden nicht nur optisch gefälliger, sondern auch zunehmend elektrifiziert. Darüber hinaus steigt die Reichweite der Akkus immer weiter an. So hat Bosch zum Modelljahr 2020 einen Intube-Akku mit 625 Wattstunden (Wh) am Start, bislang waren 500 Wh das Mass der Dinge.

Angesichts dieser Entwicklungen könnte das Velo in Sachen Individualmobilität immer mehr zum gefürchteten Jäger der Automobilbranche werden. Das zeigen auch neue Strassenverkehrsordnungen mit Vorbildcharakter, wie sie Ende April in Deutschland eingeführt wurden. Ganz oben steht dabei der Schutz für die schwächsten Verkehrsteilnehmer. Vorbei also allmählich die Zeit, in der die Autoreifen beim Anfahren an der Ampel quietschten. Nun heisst es: Auf die Sättel, fertig, los!