Analysen

Deutschland Vor wichtigen Weichenstellungen

Nach der Bundestagswahl ist völlig offen, wer in Deutschland die neue Regierung bildet. Obwohl Anleger diesbezüglich relativ gelassen sind, stösst der DAX gerade auf Gegenwind.

Der 26. September 2021 dürfte den Berlinern noch lange in Erinnerung bleiben. An diesem Tag war in der deutschen Hauptstadt enorm viel los. Knapp 25.000 Teilnehmer traten zum Berlin-Marathon an. Gleichzeitig fanden die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, dem Landesparlament von Berlin, sowie die Bundestagswahl statt. Am Nachmittag tummelten sich viele erschöpfte, aber glückliche Ausdauersportler in den Grünflächen vor dem Reichstagsgebäude. Wenige Stunden später erlebte das Regierungsviertel einen spannenden und nervenaufreibenden Wahlkrimi. In den ersten Hochrechnungen lagen SPD und die Union aus CDU und CSU praktisch gleichauf. Folgerichtig meldete sowohl der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Olaf Scholz, als auch sein CDU-Widersacher Armin Laschet Ansprüche auf das Kanzleramt an.

Als der Bundeswahlleiter tags darauf das vorläufige Ergebnis des Urnengangs bekannt gab, war die Sache schon etwas klarer. Mit 206 Abgeordneten bildet die SPD im nächsten Bundestag die stärkste Fraktion (siehe Grafik 1). Gleichwohl bleibt offen, ob Olaf Scholz an der Spitze der Regierung stehen wird. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik braucht es ein Dreierbündnis, um auf die absolute Mehrheit im Parlament zu kommen. Neben einer sogenannten Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen wäre eine »Ampel« aus SDP, FDP und Grünen möglich. Passend zu diesen Szenarien haben sich FDP und Grüne in der Woche nach den Wahlen getroffen, um eine gemeinsame Linie zu finden. Von den Gesprächen zwischen den Liberalen und der Ökopartei dürfte stark abhängen, welches Bündnis zustande kommt respektive wer Angela Merkel nach 16 Jahren im Bundeskanzleramt ablöst.

Grafik 1: Neue Machtverhältnisse in Berlin

Ergebnis Bundestagswahlen (Parteien nach Sitzen)

Politische Herausforderungen
Trotz der bestehenden Unsicherheit atmete die Börse erst einmal auf. Der Deutsche Aktienindex reagierte mit einem Plus von 2,7 Prozent auf das Ergebnis. »Nach der Bundestagswahl dürften viele Anleger und Unternehmer erleichtert sein, dass ein rot-grün-rotes Bündnis auf keine Mehrheit gekommen ist«, erklärt Dr. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Vor der Abstimmung hatte eine mögliche Koalition aus SDP, Grünen und Linkspartei an der Börse als Schreckensszenario gegolten. »Aber auch ein marktwirtschaftliches Reformprogramm ist unwahrscheinlich«, sagt Krämer mit Blick auf die Sitzverteilung. Dabei sei Deutschland bei der Standortqualität nach vielen Jahren der Erosion in das EU-Mittelfeld abgerutscht. »Dieses umzukehren, wird für eine Dreierkoalition mit teils sehr unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen nicht einfach«, meint der Ökonom.

Derweil hat der DAX gerade eine tiefgreifende Reform erlebt. Der Leitindex wurde modernisiert und stärker an die internationalen Gepflogenheiten angepasst. Ein Kernelement der Überarbeitung ist die Aufstockung um 10 auf neuerdings 40 Mitglieder (mehr dazu auf Seite 30). Die zum kalendarischen Herbstanfang umgesetzte Erweiterung kann nichts daran ändern, dass der DAX gerade durch eine eher stürmische Phase geht. Noch Mitte August notierte die Benchmark zum ersten Mal in ihrer mehr als 30-jährigen Geschichte bei mehr als 16.000 Punkten. Zum Ausbruch über diese runde Marke reichte es aber nicht. Vielmehr gab der Index gegenüber dem historischen Top um knapp 4 Prozent nach (siehe Grafik 2).

Grafik 2: Konsolidierung auf hohem Niveau

Deutscher Aktienindex

Im Bann des Inflationsgespenstes
Vor allem die grassierenden Inflationssorgen haben den DAX zusammen mit anderen Börsengradmessern aus dem Tritt gebracht. »Im Euroraum sind die Verbraucherpreise zuletzt so stark gestiegen wie seit fast zehn Jahren nicht mehr«, stellt Commerzbank-Volkswirt Christoph Weil fest. Mit 3 Prozent lag die Inflationsrate im August deutlich über dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) angepeilten 2-Prozent-Niveau. »Im September dürfte sie weiter um 0,3 Prozentpunkte auf 3,3 Prozent gestiegen sein«, erwartet Weil. Neben den erhöhten Energiepreisen führt er den Preisaufschwung auf die Lieferengpässe bei Rohstoffen und anderen Vorprodukten sowie eine Gegenbewegung zu den Corona-Effekten zurück. Gerade kontaktintensive Dienstleistungen hätten sich mit den Wiedereröffnungen verteuert.

Die US-Notenbank ist dabei, auf die Melange aus steigenden Preisen und einem kräftigen Konjunkturaufschwung zu reagieren. Demnächst dürfte sie damit beginnen, die Anleihekäufe zu reduzieren. Eine entsprechende Vorwarnung gab die Fed jedenfalls nach ihrer jüngsten Sitzung ab. Laut Christoph Weil könnte der Offenmarktausschuss bereits beim nächsten Treffen im November, »etwas früher als von uns ursprünglich erwartet«, das sogenannte Tapering beschliessen. Auch innerhalb der EZB ist die Diskussion um eine allmähliche geldpolitische Straffung am Laufen. Ihre Präsidentin, Christine Lagard, hat bereits signalisiert, dass in der Dezember-Sitzung eine Entscheidung zur Zukunft des milliardenschweren Notfallprogramms PEPP fallen könnte. Noch bleibt die Französin bei ihrer Einschätzung, wonach der jüngste Inflationsschub nicht von Dauer sein wird. Mittelfristig sollte sich die Teuerung demnach wieder unter dem EZB-Ziel einpendeln.

Konsens rauf, KGV runter
Fest steht, dass die jüngste Kursschwäche zur Reduzierung der Bewertungen im DAX beigetragen hat. Obwohl für den Index im bisherigen Jahresverlauf noch ein Plus von rund 11 Prozent zu Buche steht, bewegt sich das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) mehr als ein Zehntel unter dem Niveau von Ende 2020 (siehe Grafik 3). Hauptausschlaggebend für das rückläufige Bewertungsniveau ist die Aufwärtsrevision bei den Gewinnschätzungen. Das für die KGV-Berechnung massgebliche Ergebnis je Aktie beträgt zurzeit 1.066 Indexpunkte. Damit ist die erwartete Gewinnsumme (Forward, 12 Monate) der im Leitindex enthaltenen Unternehmen innerhalb von zwölf Monaten um knapp 40 Prozent gestiegen (siehe Grafik 4).

Grafik 3: Reduziertes Bewertungsniveau

Kurs-Gewinn-Verhältnis DAX 40 (Forward, 12 Monate)

Grafik 4: Gewinnmotor auf Hochtouren

Ergebnis je Aktie DAX 40 (Forward, 12 Monate)

Wenn die neuerdings 40 DAX-Konzerne in den kommenden Wochen ihre Quartalszahlen präsentieren, kommt der Konsens auf den Prüfstand. Dann muss sich zeigen, wie gut die exportlastigen Unternehmen aus Deutschland mit der globalen Gemengelage zurechtkommen. Sei es der notorische Halbleitermangel, steigende Transport- und Rohstoffkosten oder coronabedingte Fabrikschliessungen in Südostasien – über einen Mangel an Herausforderungen konnten sich die Manager in den vergangenen Monaten sicher nicht beschweren. Das gilt für langjährige Indexmitglieder wie den Autobauer Daimler oder den Chemieriesen BASF genauso wie für die DAX-Novizen, darunter der global agierende Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus. Da zeitgleich mit der Berichtssaison im Berliner Politbetrieb besonders viel los sein dürfte, wartet ein abwechslungsreiches und spannendes Schlussquartal auf den deutschen Aktienmarkt.