Zeitgeist

Fussball-Sticker: Sammeln, einkleben und tauschen

Die anstehende Fussball-Weltmeisterschaft ist aus mehreren Perspektiven ungewöhnlich. Trotzdem dürfte die Begeisterung vieler Fans für die legendären, auch zum Turnier in Katar erscheinenden Abziehbilder ungebrochen sein.

Eigentlich beginnt Ende November die Zeit der Weihnachtsmärkte: Funkelnde Lichter, harmonische Klänge und der Duft von Glühwein und Lebkuchen prägen die Innenstädte. 2022 ist alles etwas anders. Angesichts der Energiekrise denken Kommunen und Händler über Einsparungen nach – vor allem bei der Weihnachtsbeleuchtung. Gleichzeitig drängt ein Ereignis globalen Ausmasses in die vorweihnachtliche Beschaulichkeit: Am 20. November ertönt im Al-Bayt-Stadion von Katar der Anpfiff zur FIFA Fussball-Weltmeisterschaft (WM). Bis zum 18. Dezember spielen in dem Wüstenstaat 32 Mannschaften die 36 Zentimeter hohe, mehr als sechs Kilogramm schwere und aus 18-karätigem Gold hergestellte Trophäe aus.

Nicht nur wegen der ungewohnten Jahreszeit wollte im Vorfeld des Turniers keine richtige WM-Euphorie aufkommen. Auch die umstrittene Menschenrechtssituation im Gastgeberland sorgte dafür, dass so mancher Fan den Vorbereitungen in Katar zunächst die kalte Schulter gezeigt hat. Und doch wird der Fussball als die wohl wichtigste Sportart der Welt seine Faszination behalten. Das gilt auch für das Sammeln von Stickern, eine beliebte Begleiterscheinung grosser Turniere. Die Begeisterung für die mit Spielern, Teams und Verbandslogos bedruckten Abziehbilder hat Tradition: Vor mehr als sechs Jahrzehnten entwarfen die Brüder Giuseppe und Franco Panini im italienischen Modena ein Fussball-Sammelalbum mit dem Titel »Grande Raccolta Figurine Calciatori«.

Als erster von mehreren Kickern der Serie A wurde Bruno Bolchi am 27. August 1961 auf einem Sticker verewigt. Ende September ist der damalige Kapitän von Inter Mailand und spätere Trainer im Alter von 82 Jahren gestorben. Bolchis Konterfei prägte den Beginn einer wahren Erfolgsstory. Seit 1970 legt Panini zu jeder Weltmeisterschaft ein Album auf. Längst reicht das Spektrum des Konzerns weit über den globalen Fussballwettbewerb hinaus. Panini vermarktet auch Sammelbilder zu kontinentalen Meisterschaften, nationalen Ligen, Filmen oder Gaming-Figuren. Auch in der digitalen Welt der Blockchain sind die Italiener mittlerweile präsent – hier bieten sie exklusive NFT-Cards an.

Eine kostspielige Leidenschaft
In das »physische« Album zur anstehenden WM hat Panini 670 Bilder aufgenommen. Vermarktet werden die begehrten Objekte in Packungen mit jeweils fünf Karten. Hierfür möchte Coop im Onlineshop 85 Schweizer Rappen. Wer schneller vorankommen möchte, kann auch eine mit 100 Tüten respektive 500 Stickern befüllte Box für 85 Schweizer Franken kaufen. So oder so müssen die Fans tief in die Tasche greifen, um eine komplette Kollektion zusammenzubringen. Der britische Experte für Finanzen und Fussball, Kieran Maguire, hat hierzu eine interessante Rechnung angestellt: Wer nur einzelne Päckchen kauft, muss im Schnitt 883 britische Pfund – umgerechnet mehr als 1.000 Schweizer Franken – in die Hand nehmen, um das aktuelle Panini-Album voll zu bekommen. »Genug, um ein Haus eine Woche lang zu heizen, wenn die Energiepreisobergrenze 2023 erlassen wird«, witzelt der Autor auf LinkedIn.

Er rät dazu, in das Tauschgeschäft einzusteigen. Auf diese Weise würden sich die Kosten für ein volles Album auf im Schnitt »nur« 160 britische Pfund drücken lassen. »Falls irgendwer einen Verteidiger aus Costa Rica braucht, lasst es mich wissen, ich habe einige Ersatzteile«, blitzt der britische Humor am Ende des Posts noch einmal durch. Nicht nur auf der Insel, weltweit grassiert das Tauschfieber. Egal, ob auf Schulhöfen, am Arbeitsplatz oder in der Familie: An vielen Orten werden überschüssige Sticker im Gegenzug für fehlende angeboten. Das Zentralschweizer Emmen Center hat Ende Oktober eine eigene Tauschbörse eröffnet. Bis zum 26. November können die Fans ihrer Leidenschaft im passenden Ambiente eines Mini-Fussballstadions mittwochs (von 14.00 bis 16.00 Uhr) und samstags (von 10.00 bis 15.00 Uhr) nachgehen.

Stattliche Community
Eine Alternative zum Besuch derartiger Tauschbörsen bieten spezielle Online-Plattformen. In der Schweiz bringt bildertausch.ch die Sammelfreunde zusammen. Nach der Registrierung ist es möglich, über die Seite eigene Bilder zu verwalten, zum Tausch anzubieten oder Gesuche zu platzieren. Das gilt auch für die Sticker früherer Turniere. Ende Oktober zählte beispielsweise ein Mannschaftsbild Brasiliens von der WM 1970 zu den meistgesuchten Aufklebern.

International ist stickermanager.com unterwegs. Das im Vaduz ansässige Portal zählt mehr als 261.000 Nutzer, darunter 36.000 in der Schweiz. Sie können auf insgesamt mehr als 4.200 Kollektionen zugreifen. Panini ragt aus dem beispielsweise auch mit Pokémon-Karten oder dem Inhalt von Überraschungseiern gefüllten Fundus heraus. Stickermanager bietet sogar Transaktionen in Echtzeit an. »Der Live Swap soll insbesondere auch das Tauschen unterwegs, am Arbeitsplatz, in der Schule, im Sportverein oder an Tauschbörsen erleichtern«, erklärt der Anbieter.

Besonders stark ausgeprägt ist der Run auf die WM-Sticker in Argentinien. Laut einer Meldung von Reuters waren die Bilder und Alben im Geburtsland von Fussballlegende Diego Maradona in vielen Läden bereits im September vergriffen. Panini erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur, dass neben den Kindern dieses Mal besonders viele Erwachsene zu sammeln begonnen und damit die Nachfrage angeschoben hätten. Möglicherweise hat der Boom auch damit zu tun, dass die argentinische Mannschaft um Superstar Lionel Messi zu den Favoriten des anstehenden Turniers zählt. Wie auch immer: Die Fans können die Übertragungen problemlos im Freien verfolgen: Während der WM befindet sich das südamerikanische Land im Übergang vom Frühling zum Sommer.